Rückblick 3. 6. 2011: "Das Herz von Jenin"

Auch wenn es sich wie ein Kalauer anhört: „Das Herz von Jenin“ ist ein herzzerreißender Film. Das beginnt schon, wenn man sich im Vorfeld über den Film informieren will. Sabine Eulerich-Gyamerah wies bei ihrer Einführung darauf hin, dass das vielfach mit Preisen ausgezeichnete Werk auch auf Ablehnung stieß: Auf haGalil.com wird dem Film vorgeworfen, unausgewogen und propagandistisch zu sein, weil er eine Seite, die palästinensische, in gutem Licht erscheinen lässt und das Gute auf der anderen, der israelischen Seite, nicht zeige. Nach diesen Worten waren die rund 100 Zuschauerinnen, die im und – zu noch größerem Teil – vor Birols Café de Paris vor zwei Monitoren saßen, umso gespannter, was sie erwarten würde.

Es ist ein langsamer Film, der große Spannung aufbaut auf das, was als nächstes geschehen wird. Und bei allem, was man erfährt, bei aller Neugier, die gestillt wird, bleibt am Ende die Spannung eines ungelösten Konflikts, der das Leben so vieler Menschen prägt.

Was geschieht, gliedert sich in drei Teile: Zunächst Originalaufnahmen eines israelischen Regisseurs von dem Militäreinsatz in Jenin, bei dem der 12-jährige Ahmed Khatib von einem Scharfschützen erschossen wird, weil er mit einem echt aussehenden Spielzeug-Maschinengewehr spielte. Die Einsatzkräfte hatten den Befehl, jeden Bewaffneten zu erschießen.

Im zweiten Teil wird in zurückblickenden Interviews und Originalaufnahmen gezeigt, wie sich Ahmeds Vater Ismael dazu entschließt, die Organe seines Sohnes zu spenden: Nieren, Leber, Lunge und – nach innerem Ringen auch das Herz. Man sieht auch Eltern der Kinder, die die Organe empfangen haben. Drei davon begegnen einem im Lauf des Films wieder: eine Beduinenfamilie, eine Drusenfamilie und eine jüdisch-orthodoxe Familie.

Im dritten Teil begleiten die Zuschauer/innen Ismael, der inzwischen ein Jugendzentrum in Jenin leitet, auf Besuchen bei diesen Familien. Auch die Begegnung mit den orthodoxen Juden kommt zustande, trotz massiver Vorbehalte auf jüdischer Seite und großer Befangenheit bei Ismael. Aber es will unbedingt das Kind sehen, das nur weiterleben kann, weil es die Niere seines Sohnes erhalten hat. Auf der Rückfahrt sagt sein in Israel lebender Verwandter, der mit ihm die Reise unternimmt, zu Ismael, dass sich bei Levinson durchaus etwas getan habe. Er hat die seinerzeit in einem Fernsehinterview anlässlich der Transplantation gemachte Aussage zurückgenommen, dass er den arabischen Vater des Organspenders nicht kennen lernen wolle, und sich dafür entschuldigt.

Der Film endet mit Bildern der Kinder, die mit Ahmeds Organen weiterleben. Und er hinterlässt zwei ebenso intensive wie unvereinbare Empfindungen.
Die Geschichte von Ahmed und seinem Vater Ismael, der sich dem Frieden zuwendet, ist ebenso ergreifend, wie die durch Politik und tägliche Gewalt zementierte Kluft zwischen den Bevölkerungsgruppen in Israel und Palästina erschütternd ist. In Jenin wurden 600 Häuser von Bulldozern der israelischen Armee zerstört, weil die Stadt ein Hort gewalttätiger Widerstandskämpfer war. Ismaels ganze Familie will ein Jahr nach Ahmeds Tod zum Gedenken die israelischen Spenderfamilien besuchen, mit gültigen Einreiseerlaubnissen – und wird dennoch abgewiesen, weil die Soldatin am Grenzabschnitt keine Freigabe von ihrer Vorgesetzten bekommt. Palästinensische Kinder spielen Krieg und siegen wird der Stärkere – wie im wirklichen Leben, so erklären es die Kinder. Gewalt und Demütigungen prägen das Leben, wie Ismael es erlebt. Wie Israelis und Palästinenser einen Ausweg aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt finden können, ist nicht abzusehen, trotz des bewundernswerten Beispiels von Ismael.

Ismael Khatib war an diesem Abend in Tübingen und stand nach dem Film für eine Diskussion zur Verfügung. Gedolmetscht wurde er von Fakhri Hamad, dem palästinensischen Leiter des Cinema Jenin, des in Jenin auf Initiative von Marcus Vetter wiederaufgebauten Kinos, das mit der Kultur die Normalität in dieser Stadt ein Stück weit wiederherstellen soll. Der bescheidene Mann Ismael Khatib plädierte für Frieden und zeigte sich überzeugt, dass in beiden Völkern genügend Kräfte für einen Frieden vorhanden sind. Die Voraussetzung ist für ihn, dass die Besatzung seines Landes beendet wird. Auf die Nachfrage, was in dem Geschenkpäckchen war, das ihm die Levinsons bei seinem Besuch übergaben, antwortete er, dies sei ein Geheimnis.

Marcus Vetter nahm Stellung zu der eingangs erwähnten Kritik, der Film sei einseitig. Nicht jeder Film kann alles zeigen und nicht jeder Film muss ausgewogen sein. Aber jeder Film muss redlich und aufrichtig sein und dies nahm er für „Das Herz von Jenin“ in Anspruch; das Publikum stimmte ihm, das war zu spüren, auf tiefstem Herzen zu. Im übrigen ist der Film „Nach der Stille“, der am Freitag bei Birol als erster Film der Reihe in einer Rohfassung gezeigt worden war, das Gegenstück zu „Das Herz von Jenin“ und zeigt die andere Seite: die Witwe eines israelischen Attentopfers, die den Kontakt und die Versöhnung mit der Familie des palästinensischen Selbstmordattentäters sucht. Der Film kommt im Oktober 2011 in die Kinos. Wir werden alle hingehen.

Frank Suppanz