Rückblick 6. 5. 2011: "Mein Vater, der Türke"

Marcus Vetter heißt eigentlich Marcus Attila Vetter, und sein Vater heißt Cahit Cubuk und ist Türke. Mit 38 Jahren hat Marcus Vetter seinen Vater zum ersten Mal gesehen – abgesehen von einer kurzen gespenstischen Begegnung, als der Vater eines Tages unvermittelt vor dem Grundschüler Marcus stand und ebenso so schnell verschwand, wie er aufgetaucht war, nachdem der Junge nichts mit dieser fremden Person anfangen konnte.

Marcus Vetters Mutter hat ihrem Sohn immer wieder ihre Tagebücher gegeben, die dieser nie lesen wollte, bis er es eines Tages dann doch tat. Dort fand er die Beschreibungen, wie die Lehramtsstudentin den Gastarbeiter zufällig kennen lernte, ihn ins Kino einlud, dort küsste – und irgendwann ein Kind von ihm erwartete. Dass Cahit Cubuk bereits eine Frau und zwei Kinder in der Türkei hatte, erfuhr sie erst, als sie schon schwanger war. Cahit wollte bei Inge Vetter bleiben und sich irgendwie auch um seine türkische Familie kümmern. Nach einem Besuch in der Türkei durfte er wegen fehlerhafter Papiere nicht wieder nach Deutschland zurück. So erfuhr er aus der Ferne von der Geburt des so ersehnten Sohnes. Denn seine türkische Frau gebar ihm nur Mädchen. Aber weder wollte Inge Vetter ihren Sohn in die Türkei zu seinem Vater schicken, was dieser wünschte, noch hatte sein späterer Besuch in Deutschland und damit die einzige Begegnung mit seinem Sohn Erfolg.  Die Lektüre der Tagebücher seiner Mutter habe ihn „emotionalisiert“, berichtete Marcus Vetter, und am selben Abend fasste er den Beschluss, seinen Vater in der Türkei zu besuchen – im Rahmen eines zu drehenden Dokumentarfilms.

Es war gut, dass der 6. Mai ein sommerlicher warmer Abend war. So konnte die eine Hälfte der Zuschauer Birols Café de Paris bis zum letzten Stehplatz füllen, die andere Hälfte fand draußen vor einem weiteren Monitor Platz. Beim Nachgespräch drängten sich dann alle Interessierten nach drinnen. Dass das Filmen Begegnungen wie auf einer Bühne inszeniert, erklärte Marcus Vetter im Nachgespräch. Dass diese Inszenierung aber nicht unbedingt etwas entlarvendes, Bloßstellendes haben müsse, sondern auch dazu verhelfen könne, dass jede/r zu seinem Recht kommen, dass jede/m sein Recht und seine Würde belassen werde. Genau das realisiert Marcus Vetters Film. Beginnend damit, dass deutsch Gesprochenes mit türkischen Untertiteln versehen wird und umgekehrt und dass damit beide Sprachen und Welten gleichberechtigt nebeneinander stehen. Marcus Vetters türkische Verwandte können den Film ebenso umstandslos verstehen wie wir. Und wie Marcus Vetter es beschrieb, verhilft die Kamera den Porträtierten zu ihrem Recht: Seine Halbschwestern können – zum ersten Mal überhaupt – den tiefen Schmerz formulieren, den die Abwesenheit des von Deutschland aus für die Familie sorgenden Vaters ihnen bereit habe; die türkische Ehefrau kann über die vielfältige Abwesenheit von Liebe in ihrem Leben sprechen; der Vater kann über die Entfremdung von seiner türkischen Frau wegen deren Religiosität sprechen und über seine Selbstverständnis, dass er allen Frauen und Kindern gegenüber stets seine Pflicht erfüllt habe. Alle diese Defizite führen nicht zu einer Zerrüttung der Familienstrukturen, denn diese sind stärker. Alle spielen ihre Rolle: des Vaters und Ehemannes, der Mutter und Ehefrau, der Tochter.  Und Marcus Vetter ist von Anfang an, ja schon vor seiner Ankunft,  der geliebte Sohn und Halbbruder, mit dessen Hilfe es sogar möglich ist, dass die Töchter ihrem Vater Vorwürfe machen. Die sich dieser auch anhört, um dann aber auch einen Schlussstrich zu ziehen und in einem selbst geschriebenen Gedicht dem Sohn mitzuteilen: Fordere keine weitere Rechtfertigung von mir.

Die Inszenierung, die der Film leistet, führt nicht zu einer bleiernen Melancholie angesichts der Schicksale. Der Film strotzt vor Vitalität: der Charme und die Lebendigkeit des Vaters, seine in ihrer Religiosität ruhende Ehefrau, die zum Sprechen befreiten Töchter. Und am Schluss macht Marcus Vetters seinem Vater das eigentliche Gastgeschenk: einen Motorroller, den sie gemeinsam zu fahren üben. Was der Sohn und Vater in Marcus Vetters Kindheit nicht erlebt hat: einen Vater, der dem Sohn das Fahrradfahren beibringt, das holen sie nun mit großem Spaß und umgekehrter Rollenverteilung nach.

Ein tief berührender Film, der Versöhnliches und Bestürzendes nebeneinander stehen lässt, versöhnt durch die Humanität des Blicks, mit dem der Regisseur sich und seine Mitmenschen anschaut. Am Ende ein bewegtes und beeindrucktes Publikum: durch den Film und die überzeugende Poetik seines Filmemachens, die uns Marcus Vetter vermittelt hat.

Frank Suppanz